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11.11.2019 -

Kultur- und Kreativwirtschaft in… Mecklenburg-Vorpommern: Speerspitze der Regionalentwicklung Interview mit Corinna Hesse, Sprecherin Kreative MV – Netzwerk für Kultur- und Kreativwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern

Einleitung

  • 11.11.2019

Darüber, was mit Kultur- und Kreativwirtschaft gemeint ist, besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit. Dabei gibt es landauf, landab ganz unterschiedliche Standortbedingungen, die für eine jeweils besondere Ausprägung der Kreativszene sorgen.

Frau Hesse: Was ist das Besondere an der Kultur- und Kreativwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern

Corinna Hesse: Bei uns im Land sind ganz klare Branchen-Schwerpunkte zu erkennen. Das eine sind die Bildenden Kunst, Literatur, Musik, gefolgt von Software und Werbung und dann Architektur, Presse und Buch. Das Besondere daran ist, dass die Anzahl der Mini-Selbständigen besonders hoch ist. Viele Kreative sind das sozusagen im Zweitberuf. In anderen Bundesländern liegt der Anteil der Mini-Selbständigen eigentlich immer niedriger als der der Vollbeschäftigten. Und bei uns ist es andersherum.

Haben Sie da eine Erklärung für die hohe Zahl der Nebenerwerbs-Kreativen in Mecklenburg-Vorpommern?

Corinna Hesse: Einerseits liegt das an diesem sehr starken Branchen-Schwerpunkt. Da ist es halt so, dass man als Künstler, Autor oder Musiker nicht so viel Geld verdienen kann. Das andere ist natürlich – das ist jetzt meine persönliche Erklärung, das kann ich statistisch nicht belegen – dass Mecklenburg-Vorpommern Niedriglohnland ist. Und das spiegelt sich natürlich auch in unserer Branche wider.

Wo in Mecklenburg-Vorpommern sind die Kreativen vornehmlich aktiv?

Corinna Hesse: Es gibt ein paar Cluster in den Städten Rostock, Greifswald, Wismar. Das liegt auch daran, dass dies Hochschulstandorte sind. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass die Potenziale im ländlichen Raum liegen. Denn im digitalen Zeitalter kann man überall arbeiten, und man kann da arbeiten, wo man eigentlich leben möchte. Darum gibt es unter den Kreativen ganz viele Stadtflüchtende, die aufs Land ziehen. Ein Grund dafür ist auch, dass die Raumkosten in den Städten kolossal gestiegen sind.

Welche besonderen Chancen liegen in einem Umzug aufs Land?

Corinna Hesse: Dadurch, dass wir hier auf dem Land noch diesen Raum-Wohlstand haben, also verfügbare Räume, niedrige Kosten, kommen Kreative hierher, um ihre Ideen zu entwickeln. Wir haben hier in der Nähe beispielsweise einen ehemaligen botanischen Garten. Das Gelände wird jetzt von 30 jüngeren Berlinern – die sind alle so um die 30 – neu bespielt. Die haben eine Genossenschaft gegründet und nennen sich „Wir bauen Zukunft“. Ein großer Schwerpunkt liegt auf ökologischem Bauen, Tiny-Houses, Energieversorgung usw. Da gibt es Seminarräume in den alten Verwaltungsgebäuden und neue Werkstätten in den ehemaligen Werkstätten.

Wie wirkt sich die Stadtflucht der Kreativen aus?

Corinna Hesse: Der Vorteil für die Kreativen ist die Möglichkeit, ihre Ideen, die sie aus den Städten mitbringen, in großen bezahlbaren Räumen zu verwirklichen. Und der Vorteil, den die Kreativen für das Land bieten, ist wiederum, dass sie inzwischen ein enormer Faktor der Regionalentwicklung geworden sind. Eine neue Studie der Metropolregion Hamburg, die auch den Unterschied zwischen Stadt und Land untersucht, hat ganz klar festgestellt, dass das kreative Milieu auf dem Land die Attraktivität von Standorten steigert, zu mehr Unternehmensansiedelungen führt, hochqualifizierte Arbeitskräfte anzieht, weil die Lebensqualität natürlich durch kulturelle Angebote steigt. Sie wirkt dem Trend der Abwanderung entgegen.

Sind die Auswirkungen der Kreativen auf ihre ländlichen Standorte denn tatsächlich spürbar?

Corinna Hesse: Aber ja. Einerseits sind das natürlich gerade traditionelle Kulturveranstaltungen, die auch für die örtliche Bevölkerung ein gewinnbringender Faktor sind, die außerdem identitätsstiftend wirken und den sozialen Zusammenhalt stärken. Aber es gibt auch handfestere Beispiele: Da gibt es das Schloss Bröllin. Das liegt in Vorpommern, nahe der polnischen Grenze. Es ist die allererste Generation der Raumpioniere gewesen, die schon nach der Wende dorthin gekommen sind. Die in Bröllin haben letztes Jahr 25-jähriges Bestehen gefeiert. Die haben in einem Schloss, was natürlich sanierungsbedürftig war, den größten Probenort für darstellende Künste in Europa entwickelt. Und zwar überwiegend mit eigenen Mitteln. Sie haben z.B. in einem riesigen Speicher einen Probenraum für Zirkusakrobaten eingerichtet. Weil der so hoch ist, kann man da mit Zirkustruppen hingehen, um zu proben. Und da kommen aus ganz Europa Theatergruppen und Musiktheater hin, um da zu proben, weil es auch relativ kostengünstig ist. Und die machen auch große Veranstaltungen vor Ort und für die Region. Am Anfang war es so, dass die örtliche Bevölkerung gedacht hat, das sind Außerirdische, die von einem anderen Planeten kommen und die eigentlich gar nicht dahin passen. Aber das hat sich geändert, als die angefangen haben, auch Veranstaltungen für Kinder anzubieten. Zirkus eignet sich dafür sehr gut. Und heute sagt die Region, das ist das Beste, was uns passieren konnte, dass die sich da angesiedelt haben.

Hier ist die Landbevölkerung im Nachhinein gewonnen worden. Gibt es auch Beispiele, wo sie von Beginn an mit im Boot ist?

Corinna Hesse: Ja klar. Der von uns initiierte Landeswettbewerb Raumpioniere zeichnet Projekte aus, die mit künstlerischen und kreativen Methoden die Gemeinschaft vor Ort stärken und gemeinsam mit den Anwohnern zukunftsweisende Ideen für Dörfer und Kleinstädte entwickeln und erproben. Da gab es auch ein Raumpionier-Projekt, das den ersten Preis bekommen hat, ein Design-Thinking-Projekt zur Dorfentwicklung. Das war komplett schräg, ich war dabei. Ein Design-Thinking-Coach hat es geschafft, die Methode Design-Thinking den Dorfbewohnern zu erklären, mit ganz einfachen Worten und ohne diesen BWL- Jargon. Danach haben die Leute vor Ort an mehreren Workshops teilgenommen. Die haben den ersten Preis gewonnen und wollen einen Prototyp zur Dorfentwicklung des 21. Jh. entwickeln, der auch auf andere Dörfer übertragbar ist. Wie schafft man es, dass sich auch jüngere Menschen dort ansiedeln und die Zukunft der Dörfer gesichert ist, ohne dass die ihre Identität verlieren. Da geht es u.a. um die Neubespielung von Gebäuden, eine Mitfahr-App, Ideen, wie man Informationen oder Güter zwischen den Bewohnern austauschen kann, wie man Dorffeste so gestaltet, dass sich auch jüngere Zielgruppen angesprochen fühlen? Solche Themen.

Das hört sich alles gut an. Wie profitieren denn die vielen Mini-Selbständigen, von denen sie gesprochen haben, davon?

Corinna Hesse: Es gibt zahlreiche Einzelkämpfer, die aufs Land ziehen. Aber als Einzelkämpfer sind nur die erfolgreich, die wirklich einen richtig großen internationalen Namen haben, die halt ihre Bilder auf internationalen Märkten vertreiben können etc. Die sind aber natürlich, wie man sich denken kann, in der Minderheit. Die Erfolgreichsten sind eigentlich die, die sich zusammentun. So war das beispielsweise im Fall Rothener Hof, der sich seit 2002 schon als zentraler Ort für Kultur, Gewerbe und Kunst etabliert hat. Da gibt es heute ganz verschiedene Ateliers, die machen aber auch Veranstaltungen usw. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass alle Beteiligten dann von solchen Projekten profitieren, wenn eine kritische Masse, also eine ausreichende Anzahl der Akteure, die da vor Ort sind, erreicht ist.

Wie war es in MV möglich, eine ausreichende Anzahl von Akteuren z.B. in Rothen zusammenzubringen?

Corinna Hesse: Das passiert ja manches Mal auch eher zufällig. Da gehen Einzelkämpfer aus den Städten raus, weil sie auch andere Lebensentwürfe haben, und treffen dann mehr oder weniger zufällig auf Gleichgesinnte. So war das beispielsweise im Fall Rothener Hof.

In anderen Fällen steckt eine bestimmte Person als Ideengeber oder Motivator dahinter. Wie beim Zentrum für zirkuläre Kunst in Lübz, das in dem schon erwähnten Landeswettbewerb für Raumpioniere den dritten Preis bekommen hat. Treibende Kraft ist da eine zugewanderte Potsdamer Künstlerin, die ganz viel im Bereich Upcycling arbeitet, was ja auch ein gesellschaftliches Trendthema ist. Die hat ein internationales Netzwerk an Künstlern gesponnen, die alle in diesem Bereich arbeiten. Und die bietet nun für diese Leute und andere Teilnehmer Sommerateliers an, u.a. in Räumen, die die Stadt Lübz zur Verfügung stellt.

Und dann gibt es noch die Variante, bei der sich Akteure zusammentun, weil sie sich beflügeln. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es das Dorf Lüchow. Und da gab es ein Architektenbüro, was sich da vor einigen Jahren angesiedelt hat. Der Inhaber hatte für sein privates Umfeld die Idee, dieses Dorf, Lüchow, mit einigen Mitstreitern zusammen so weiterzuentwickeln, dass es lebenswert ist. Und die haben, was ich sensationell finde, als allererstes einen Kindergarten ins Leben gerufen, obwohl es an diesem Ort überhaupt keine Kinder gab. Da wohnten nur alte Menschen. Und dann denkt man erst mal: Wie absurd ist das denn? Die haben also diesen Kindergarten gebaut, und der ist komplett durch die Decke gegangen. Alle im Umfeld schicken ihre Kinder dahin, weil das Gebäude toll ist, weil ein Gemeinschaftskonzept existiert, weil dieser ganze Ort durch die architektonische Gestaltung belebt wurde und das eben andere Leute angezogen hat. Ein paar Jahre später haben sie noch eine Schule gegründet. Inzwischen ist dieser Ort so: Die alten Menschen gibt es immer noch, die wohnen sozusagen in einem Mehrgenerationenhaus zusammen. Die Dorfgemeinschaft funktioniert so, dass durch die Schule und den Kindergarten mittags gekocht wird. So können alle, auch die älteren Menschen, mittags essen. Damit so etwas in die Gänge kommt, gehört auch immer jemand dazu, der Öffentlichkeitsarbeit kann. Das ist auch in Rothen der Fall. Die haben einen Journalisten im Team.

Sie haben schöne Beispiele genannt. Wie bewerten Sie zusammengefasst die Bedeutung all dieser ländlichen Einzelbeispiele, die Bedeutung der Kulturaktiven für Mecklenburg-Vorpommern?

Corinna Hesse: Den Kreativen ermöglichen vor allem die ländlichen Räume das künstlerische Experimentieren, das Entwickeln von Prototypen. Das ist als Potenzial für das Land noch gar nicht richtig erkannt, findet aber schon statt. Wir wünschen uns, dass man volkswirtschaftlich guckt, welche Effekte die Kreativen in diesem Kontext haben. Dass man erkennt, dass dieses Experimentieren extrem wichtig ist und dass man diese bislang noch nicht finanzierte Forschungsabteilung durch das Land finanzieren muss. Das ist Regionalentwicklung. Und Regionalentwicklung kostet etwas.