Navigation

15.12.2020 -

Verändern im System und am System
Interview mit Sebastian Turner zu Innovationen in der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Einleitung

Sebastian Turner war Vorstandsvorsitzender einer internationalen Kommunikationsgruppe, Gründer eines Wissenschaftskongresses und Herausgeber einer großen Tageszeitung. Nun gründet und fördert er innovative Medien-Unternehmen.

Herr Turner: Sie beteiligen sich finanziell an innovativen Medienunternehmen. Was müssen das für Unternehmen sein, damit Sie sagen: Das passt?

Idealerweise bietet das Unternehmen eine Leistung an, die ich in herkömmlicher Form schon genutzt habe, sodass ich erkenne, worin der Vorteil für einen Kunden besteht. Überall da, wo ich das nicht erkennen kann, weil ich in dem Bereich keine Erfahrung habe, halte ich mich erstmal zurück.
Die meisten Start-ups scheitern, weil sie grundlegende Fragen nicht richtig eingeschätzt haben, schlimmstenfalls den Kundennutzen.

Gibt es außer dem Kundennutzen noch etwas Anderes, das Sie von einem Unternehmen überzeugt?

Das Team. Auch die allerbeste Idee hilft nicht, wenn sie nicht gut umgesetzt wird. Dazu gehört auch, dass man in der Umsetzung sehr genau darauf achtet, was wirklich funktioniert und was nicht. Ein Team muss nicht nur sehr tatkräftig und aufgeweckt sein und gut zusammenspielen. Es muss auch sagen: Ich höre mit gespitzten Ohren zu, was da draußen los ist, was meine Kunden sagen, welche Marktentwicklungen es gibt. Und ich stelle mich ständig darauf ein.
Manche Leute haben gute Ideen, sind in diese Ideen aber so verliebt, dass sie auch nur minimale Anpassungen für einen Verrat an der wahren Lehre halten. Da ist Scheitern oft vorprogrammiert.

„Was da draußen los ist“, sagen Sie. Was ist denn da draußen los? In welche Richtung entwickelt sich die Medien-Branche?

Es gibt nicht eine Richtung, in die sich die Medienbranche entwickelt, sondern es sind viele: vom Streaming-Dienst im Fernsehen bis zur Produktion von Kameralinsen oder der Drucktechnologie. Das ist also ein riesiges Feld. Was mich allerdings besonders interessiert, ist der Qualitätsjournalismus. Und im Qualitätsjournalismus gibt es für meine Begriffe zwei Merkmale, die man berücksichtigen muss. Das erste ist: Gelingt es, die Transaktionskosten zu mindern, damit man so viel Mittel wie möglich für die inhaltliche Qualität aufwenden kann? Und daraus folgt das zweite Merkmal: gelingt es, die Exklusivität, also die qualitativen Alleinstellungsmerkmale so zu steigern, dass die Kunden das auch wahrnehmen und schätzen?

Zu den Transaktionskosten: Ein Text muss geschrieben, ein Bild oder Film aufgenommen werden, dann muss das Ganze in die Druckerei, aus der Druckerei muss es zu tausenden von Boten, und die stecken es in den Briefkasten. Alles per Hand und nachts. Das ist ein enormer Aufwand. Dem gegenüber stehen deutlich geringere Transaktionskosten, wenn ich dem Leser genau das gleiche redaktionelle Produkt als E-Paper auf sein Handy schicke.

Damit komme ich zum zweiten Punkt: mehr Exklusivität und Qualität. Ich war sieben Jahre lang Mitherausgeber einer großen Zeitung in Berlin. Berlin hat mehr Einwohner als Schleswig-Holstein. Aber nur dort haben Sie viele, viele gedruckte Lokalausgaben, für Flensburg, für Husum, für Rendsburg, für Eckernförde und so weiter. Unsere Zeitung und auch die anderen Berliner Blätter haben dagegen keine Lokalausgaben, also nicht eigene Ausgaben für Zehlendorf oder für Lichtenberg, obwohl die jeweils größer als Kiel sind. Die Print-Transaktionskosten wären hier einfach viel höher als die erhoffbaren Mehreinnahmen. Es geht aber auch ohne Transaktionskosten – und genau das haben wir gemacht: Jetzt gibt es für jeden der zwölf Bezirke eine Lokalausgabe ohne aufwendige Transaktionskosten.

Gibt es für Sie einen Zusammenhang zwischen geringeren Transaktionskosten und höherer Exklusivität und Qualität?

Ja, man kann den Euro ja nur einmal ausgeben. Wenn die Transaktionskosten wegfallen, habe ich mehr Geld für die Inhalte. So entstehen Mittel für exklusive Themen, die nur sie haben und die für einen Teil der Leserschaft besonders relevant sind. Wenn diese Leser bei der Lektüre in ihren eigenen Kompetenzgebieten, etwa bei Ärzten über Medizin und Zehlendorfern über Zehlendorf feststellen, das stimmt, was sie lesen, dann denken sie auch: Der Rest in der Zeitung ist mutmaßlich ebenso verlässlich. Inzwischen haben diese Lokalausgaben über 200.000 Nutzer, aus denen wir neue zahlende Zeitungs-Abonnenten gewinnen. Auf diesem Wege refinanzieren wir Exklusivität und Qualität, weil wir damit eine große Redaktion halten oder sogar verstärken können.

Hoher Kundennutzen, geringe Kosten, hohe Exklusivität und Qualität: Gelten diese klassischen Marketing-Erfolgsfaktoren auch für die Kultur- und Kreativwirtschaft insgesamt?

Ich nehme an: ja. Möglicherweise sogar ganz besonders für diejenigen, die mit ihrer Arbeit nicht vordringlich auf den Markt zielen, sondern zuerst künstlerische Ziele erreichen wollen. Wenn sie in einer Nische besonders gut sind und die an dieser Nische Interessierten einfacher und gezielter finden, dann können sie sich treu bleiben und doch mehr Einnahmen erzielen. Wer von seiner kreativen Arbeit leben will, für den können Innovationen eine entscheidende Hilfe sein, ganz besonders die Möglichkeiten der Digitalisierung.

Welche Art von Innovationen können denn für die Kultur- und Kreativwirtschaft insgesamt nützlich sein?

Es gibt ein Innovations-Paradox in der Kreativwirtschaft. Um das zu verstehen, muss man die Arbeit „im System“ von der Arbeit „am System“ getrennt betrachten. Wenn sie ein Schriftsteller oder Designer oder Musiker sind, dann arbeiten sie permanent innovativ im System. Sie machen als Fotograf kein Foto zweimal. Sie machen als Komponist keine Komposition zweimal. Sie sind grundsätzlich innovativ, aber eben im System, also innerhalb der Spielregeln, die sie im Rahmen ihrer Berufsausbildung oder in ihrer beruflichen Praxis erlernt haben. Die Digitalisierung stellt nun an uns alle in der Kreativwirtschaft die Aufgabe, nicht nur im System kreativ zu sein, in dem wir unsere Routinen haben, wo wir Sicherheit haben, sondern sie zwingt uns, am System Innovationen vorzunehmen. Und das ist entsetzlich mühsam, weil wir unsere Routinen ganz oder teilweise aufgeben müssen.
Ich kenne eine ganze Reihe von Künstlern und Leuten in schöpferischen Berufen, die sich auf die veränderten Arbeitsbedingungen in der Corona-Krise einstellen mussten und eingestellt haben. Die haben am System was gemacht und sind jetzt auch wieder erfolgreich.

Innovation am System: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Wir haben zwölf Jahre lang die Falling Walls Conference organisiert, eine große Präsenzveranstaltung für die Wissenschaft, immer am Tag des Mauerfalls, dem 9. November. Inzwischen sind wir schon Monate vor der Veranstaltung ausverkauft. Dann kam Corona, und wir haben schon im Februar angenommen, dass auch die beste Organisation die Präsenzveranstaltung nicht retten kann. Also haben wir entschieden: Wir machen alles digital. Wir haben daraufhin nicht mehr im System, sondern am System gearbeitet – wir haben radikal Alles infrage gestellt: Zeiten, Größen, Themen, Darbietung, Teilnehmer – alles, alles, alles. Ich erspare Ihnen die Details. Nur ein Ergebnis: Dieses Jahr werden wir doppelt so viele Vortragende haben, wie wir letztes Jahr Plätze im Saal hatten.

Lässt sich diese Innovations-Herausforderung „am System“ auf die Kultur- und Kreativwirtschaft generell übertragen?

Bis zum Nachweis des Gegenteils meine ich: ja, warum denn nicht? Man kann es auch nicht nur als Androhung von Strafe verstehen: Wenn du dich nicht veränderst, wirst du verlieren. Viel schöner finde ich den Lockstoff: In der Innovation liegen gestalterische Möglichkeiten, die dich vielleicht mehr begeistern als das, was du bisher machst, entdecke sie! So würde ich das immer versuchen zu sehen. Wenn Mobilität mit Kutschen nicht mehr geht, dann befassen wir uns mit dem Auto, das kann man möglicherweise ganz anders gestalten. Die ersten Autos sahen noch aus wie Kutschen ohne Pferd, das kann man selbst von SUVs heute nicht mehr sagen. In den wenigen Bereichen, in denen ich genug Erfahrung habe, kann ich das einigermaßen präzise sagen: die Arbeit am System macht noch mehr Spaß als die im System.