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09.06.2023 -

„Sich als junge Musikerin oder junger Musiker Gehör zu verschaffen, ist eine extreme Herausforderung.“ Interview mit Tina Sikorski, Initiative Musik gGmbH

Einleitung

Interview mit Tina Sikorski

Tina Sikorski

© Privat / © Tina Sikorski

Der Musikmarkt hat im vergangenen Jahr zugelegt: weltweit und damit auch in Deutschland. Ursache dafür ist das boomende Streamingbusiness. Wer genau davon profitiert und wie es darüber hinaus auf dem deutschen Musikmarkt aussieht, erklärt Tina Sikorski, Geschäftsführerin bei der Initiative Musik gGmbH, der zentralen Fördereinrichtung der Bundesregierung und der Musikbranche.

Frau Sikorski, im Global Music Report 2023 der International Federation of the Phonographic Industry (ifpi) heißt es, dass die Musikindustrie im vergangenen Jahr um neun Prozent gewachsen ist. Haupttreiber ist dabei die starke Nutzung der Streamingangebote. Lässt sich diese Entwicklung auf den deutschen Musikmarkt übertragen?

Sikorski: Für den deutschen Musikmarkt gibt der Bundesverband Musikindustrie jedes Jahr die Daten heraus. Und tatsächlich sieht die Marktentwicklung da ganz ähnlich aus: Demnach ist der Musikmarkt insbesondere dank des Streamings in 2022 knapp über sechs Prozent gewachsen. Insofern ist es auf jeden Fall ein entscheidender Wachstumstreiber.

Wer profitiert von dieser Entwicklung? Letztendlich sind es doch immer nur ganz bestimmte Akteurinnen und Akteure, die daran verdienen.

Sikorski: Stimmt, wobei es interessant ist, dass selbst große Streamingplattformen wie Spotify trotz der gestiegenen Einnahmen nach wie vor keine schwarzen Zahlen schreiben. Vielmehr geht der überwiegende Teil der Streaming-Einnahmen an die Major-Labels. Dabei handelt es sich um Tonträgerunternehmen wie Universal Music, Sony Music und Warner Music, die die Rechte an den Musikaufnahmen halten. Sie profitieren von ihren großen Song-Katalogen, die circa 70 Prozent der Streams ausmachen. Die Streaming-Plattformen schütten circa 70 Prozent ihrer Erlöse an die Rechteinhaber aus. Dazu gehören neben den Labels auch die Musikverlage. Von diesen Ausschüttungen erhalten die Major-Labels wiederum ca. 80 Prozent. Davon bekommen die Künstlerinnen und Künstler, die bei den Labels unter Vertrag sind, einen bestimmten Anteil. Der kann – wenn man zu den sehr erfolgreichen Künstlerinnen oder Künstlern gehört und gut verhandelt hat – bei 50 Prozent liegen. Weniger erfolgreiche bzw. bekannte Künstlerinnen und Künstlern müssen sich dagegen mit 20 bis 30 Prozent begnügen. Das hängt immer von den individuellen Vereinbarungen der Künstlerinnen und Künstler mit den Labels ab.

Was ist mit den kleineren Labels, die weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler unter Vertrag haben?

Sikorski: Die profitieren nur in geringem Maß von dem Streamingboom. Dazu muss man einfach wissen, dass sich beim Streaming alles um Hits dreht. Dabei geht es allerdings weniger um neuere Songs, sondern vor allem um weltweite Hits von den fünfziger Jahren bis heute. Deswegen sind die alten werthaltigen Musikkataloge mit den vielen, vielen Musikaufnahmen so wertvoll. Die machen den Großteil der Gewinne aus. Die ganzen Bob-Dylan-Songs, die Beatles-Songs, die Queen-Songs usw.: Das ist das, was wirklich von Wert ist. Deswegen haben auch immer mehr große Investoren Interesse daran, diese Kataloge aufzukaufen.

Neben den Labels gibt es noch die Musik-Verlage, die aber von den Streaming-Plattformen nur einen kleineren Anteil der Ausschüttungen erhalten, so ca. 20 Prozent. Die Verlage vertreten die Autorinnen- und Autorenseite mit den Texterinnen, Textern, Komponistinnen und Komponisten.

Für einen Außenstehenden ist das gar nicht so einfach zu durchschauen.

Sikorski: Nein, aber ich denke, es wird deutlich, warum es beim Streaming immer wieder zu heftigen Diskussionen zwischen den verschiedenen Marktteilnehmern kommt. Es gibt einen regelrechten Verteilungskampf.

Lassen Sie uns darüber gleich noch einmal sprechen. Zunächst noch eine andere Frage: Aus Ihren Ausführungen kann man schließen, dass es für musikalische Newcomer ziemlich schwierig ist, nach oben zu kommen. Ist das richtig?

Sikorski: Ja, ich glaube schon, dass es schwieriger geworden ist, weil es heutzutage einfach ein riesiges Angebot an Musik gibt. Sich da als Musikerin oder Musiker Gehör zu verschaffen, ist eine extreme Herausforderung, zumal nur wenige noch in junge Künstlerinnen und Künstler investieren. Den kleinen Labels fehlen dafür meist die finanziellen Möglichkeiten, und um bei einem Major-Label einen Vertrag zu bekommen, muss man schon ein gewisses Level erreicht haben. Da ist die Konkurrenz einfach riesig. Und weil beim Streaming mit bekannten Hits wesentlich mehr Geld verdient werden kann, fallen die jüngeren und unbekannteren Künstlerinnen und Künstler damit durchs Raster.
 
Bis vor ein paar Jahren noch konnten sich Newcomer über Livekonzerte in den vielen kleinen Musik-Clubs einen Namen machen und sich eine Fanbase erspielen. Aber gerade diese kleinen und mittleren Veranstalter und Spielstätten haben heutzutage große Probleme aufgrund der Inflation, der hohen Energiekosten und nicht zuletzt durch die Folgen der Pandemie. Es gibt mittlerweile immer weniger Clubs und Veranstaltungen, auch weil die Leute nicht mehr in der Zahl wie in den früheren Jahren kommen. Das hat sich durch Corona verstärkt. Vor allem die Altersgruppe Ü35 geht sehr viel weniger auf Konzerte, so dass Musikerinnen und Musiker immer weniger auf sich aufmerksam machen können. Auch der Hörfunk in Deutschland spielt so gut wie keine Titel mehr von unbekannten Künstlerinnen und Künstlern. In anderen Ländern sieht es da teilweise besser aus. Social Media sind natürlich auch ein Weg, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber auch hier muss es einem erstmal gelingen, aus der schieren Masse an Content hervorzustechen.

Sie unterscheiden zwischen bekannten und unbekannten Musikerinnen und Musikern. Muss man auch die verschiedenen Musikgenres berücksichtigen? Popmusik, Rockmusik, Jazz, klassische Musik: Gibt es da Unterschiede?

Sikorski: Man kann auf jeden Fall sagen, dass beim Streaming Pop und Hiphop sehr gut funktionieren, gefolgt vom Rock. Dann kommt mit großen Abstand Deutschpop. Jazz ist dagegen auf Streaming-Plattformen kaum relevant. Das funktioniert eigentlich nur live.
 
Interessant ist sicher auch der boomende Vinylmarkt, wobei dabei keine riesigen Umsätze erzielt werden, aber es gibt immerhin ein Wachstum. Dabei liegt die Rockmusik ganz vorne. Rockmusik-Fans sind offensichtlich etwas traditioneller und kaufen sehr gerne mal eine Schallplatte.

Und die Klassik?

Sikorski: Die Klassik wird traditionell sehr stark gefördert. Die wird als wertvolles deutsches Kulturgut angesehen. Viele Orchester werden ja auch staatlich finanziert. Das ist natürlich etwas, was sich die Popmusikerinnen und -musiker genauso wie die Jazzmusikerinnen und -musiker wünschen: mehr öffentliche Förderung.

Aber es gibt doch schon eine ganze Reihe an Förderprogrammen für die Pop- und Jazzmusik.

Sikorski: Sicher, die Initiative Musik vergibt zum Beispiel den Deutschen Jazzpreis mit Preisgeldern von fast einer halben Million Euro pro Jahr. Das ist für den Jazz extrem wichtig, weil die Musikerinnen und Musiker über ihre Musikaufnahmen oder live-Konzerte einfach nicht ausreichend verdienen. Von daher sind sie von Preisgeldern, Stipendien, Mäzenen und Ähnlichem abhängig.
 
Mit unserer Künstlerinnen- und Künstlerförderung unterstützen wir außerdem die Produktion von Musikaufnahmen, von Videos oder auch Musikkreationen im Pop- und Jazzbereich. Wir fördern Live-Touren von Musikerinnen und Musikern sowie mit unserer Club-Förderung Musikclubs, die Nachwuchskünstlerinnen und -künstlern eine Auftrittsfläche bieten. In Kürze werden wir hoffentlich auch ein Programm auflegen können, um Festivals zu fördern. Darüber hinaus haben wir in der Covid-Pandemie für die Bundesregierung fünf Teilprogramme im Rahmen des Rettungs- und Zukunftspakets NEUSTART KULTUR realisiert, die diesen Sommer allerdings endgültig auslaufen.
 
Nur: Wenn man sich allein das Budget der Initiative Musik ansieht, ist das mit 16,5 Millionen jährlich einfach viel zu gering, als dass wir sowohl für den Jazz als auch die verschiedenen Pop- und Rocksparten große Sprünge machen könnten. Gerade im Vergleich zum Förderbudget, das der Klassik zur Verfügung steht, ist das nur ein Bruchteil.

Welche Möglichkeiten gibt es für junge Musikerinnen und Musiker, neben der finanziellen Unterstützung durch die Initiative Musik, ihre Karrieren aufzubauen?

Sikorski: Wir merken immer wieder, wie wichtig es ist, dass Künstlerinnen und Künstler ein solides Business-Know-how aufbauen, um gegebenenfalls auch ohne wirtschaftliche Partner ihre Vermarktung in die Hand zu nehmen. Je besser sie wissen, wie sie ihren Vertrieb gestalten können, wie ein Musiklabel, ein Musikverlag usw. funktioniert, welche Fallstricke es in Verträgen gibt, desto eher können sie sich auf dem Markt positionieren und ihre Karriere planen. An der Popakademie Baden-Württemberg gehört dieses Business-Know-how auch für Musikerinnen und Musiker zum Curriculum. Ich würde mir wünschen, dass dem Beispiel alle Musikhochschulen folgen würden.

Neben den Förderangeboten der Initiative Musik gibt es auch andere Einrichtungen, die Musikerinnen und Musiker unterstützen.

Sikorski: Ja, dazu gehört zum Beispiel der Musikfonds, der vor allen Dingen avantgardistische Musik fördert. Dann gibt es zahlreiche regionale Angebote wie das Musicboard Berlin, RockCity Hamburg, das Pop-Büro Stuttgart usw. Der Deutsche Musikrat und auch die Popakademie Baden-Württemberg bieten mit dem Popcamp und dem Bandpool Coaching-Programme für ambitionierte Bands und Solokünstlerinnen und -künstler an. Also alles in allem gibt es einiges, nur: Es reicht nicht. Die renommierten Fördereinrichtungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mit der Förderung von Pop und Jazz verbundenen Summen und die personelle Ausstattung vergleichsweise gering sind.

Kommen wir noch einmal zurück zum Streaming. Sie hatten eingangs von Verteilungskämpfen gesprochen. Um was geht es?

Sikorski: Jeder will natürlich seinen Anteil vom Kuchen abbekommen. Es geht u.a. um die Höhe der Ausschüttungen an die Rechteinhaber, es geht um die unterschiedliche Wertigkeit von Songs bzw. Streams, es geht um die Anteilsverteilung zwischen Labels und Verlagen und natürlich geht es um eine faire Vergütung der Kreativen, sei es im Verhältnis zu ihren Labels und Verlagen oder zu den Streamingplattformen direkt.
 
Momentan heiß diskutiert wird das Vergütungsmodell im Streaming. Aktuell erfolgt die Verteilung nach dem Pro-Rata-Modell. Danach werden alle Einnahmen einer Streamingplattform in einen Topf geworfen und dann nach dem prozentualen Anteil einzelner Songs aufgeteilt. Wenn z.B. ein neuer Song von Miley Cyrus 5 Prozent der gesamten Streams der Plattform ausmacht, gehen auch 5 Prozent der gesamten Ausschüttungen an die Rechteinhaber dieses Songs.
 
Viele Künstlerinnen und Künstler wünschen sich dagegen ein nutzerzentriertes Vergütungsmodell, das ihrer Meinung nach für eine fairere Verteilung der Erlöse sorgen würde. Wenn ich als Hörerin zum Beispiel nur Songs von den Toten Hosen und Rihanna streamen würde, ginge das Geld auch nur genau an diese Künstler bzw. Künstlerin bzw. an die Rechteinhaber genau dieser Songs. Ich denke, die Vergütung würde durch das User-Centric-Modell tatsächlich gerechter werden. Ob auch kleinere bzw. unbekanntere Künstlerinnen und Künstler davon profitieren würden, ist jedoch umstritten.  
 
Aber letztlich ändert auch ein neues Vergütungsmodell nichts daran, dass überwiegend die Hits bekannter Künstlerinnen und Künstler gestreamt werden und die weniger bekannten Musikerinnen und Musiker das Nachsehen haben.

Das bedeutet, die finanzielle Situation für professionelle Musikerinnen und Musiker ist alles andere als einfach.

Sikorski: Die meisten Berufsmusikerinnen und -musiker arbeiten in sehr prekären beruflichen Verhältnissen. Die Künstlersozialkasse veröffentlicht jedes Jahr Zahlen zum Durchschnittseinkommen von Künstlerinnen und Künstlern, unter anderem auch von Musikerinnen und Musikern. Deren Durchschnittseinkommen lag für das gesamte Jahr 2022 gerade mal bei 15.800 Euro. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittseinkommen in Deutschland bei 50.000 Euro liegt, ist das schon sehr ernüchternd. Und wenn dann noch viele Live-Auftrittsmöglichkeiten wegfallen, ist das schlichtweg alarmierend. Die meisten müssen sich mit anderen Jobs über Wasser halten. Einige schaffen es immerhin, der Musik treu zu bleiben, indem sie zum Bespiel als Musiklehrerin oder -lehrer arbeiten, Songs für andere Musikerinnen und Musiker schreiben oder Musikstücke für die Werbung produzieren. Einige spielen bekannte Pop- und Rocksongs in einer Coverband und treten auf Partys, Familienfeiern oder ähnlichem auf.

Lassen Sie uns bitte zum Schluss noch zu einem anderen Thema kommen. Die Initiative Musik war im März 2023 wieder in den USA und hat an der South by Southwest teilgenommen. Was haben Sie in diesem Jahr von dem weltweiten Event mitgenommen?

Sikorski: Gleich eines vorweg: Die South by Southwest, SXSW, im texanischen Austin ist ursprünglich als internationales Musikfestival gestartet. In den letzten Jahren hat sich daraus aber zunehmend eine Messe und ein „Place-to-Be“ für die Tech-, Games- und Filmbranche entwickelt. Unternehmen wie Google, Amazon, Sony usw. finden es einfach sehr sexy, mit der Musikbranche zu interagieren. Von daher hat die Veranstaltung eine sehr spezielle Atmosphäre. Überall spielen Bands, die Atmosphäre ist entspannt, und man kommt relativ einfach mit Investoren und anderen potenziellen Geschäftspartnern ins Gespräch.
 
Diese besondere Atmosphäre macht sich auch im German Haus bemerkbar, das die Initiative Musik bereits seit etwa zehn Jahren betreut. Dort finden Sie inzwischen nicht nur Vertreterinnen und Vertreter aus der deutschen Musikbranche, sondern auch aus dem Film- und Tech-Bereich. Ich denke, das ist eine große Bereicherung, auch wenn es natürlich eine große Herausforderung ist, den verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden. Was mich besonders freut, ist, dass der German Showcase mit Auftritten von Bands aus Deutschland in diesem Jahr extrem gut besucht war und bei den internationalen Gästen und Musikmanagerinnen und -managern sehr gut ankam. Für die Musikerinnen und Musiker haben sich dadurch Möglichkeiten eröffnet, auf Festivals in Kanada, den USA und anderen Ländern aufzutreten.

Das sind tolle Aussichten. Aber Konzerte im Ausland erfordern auch viel Vorbereitung. Helfen Sie den Musikerinnen und Musikern dabei?

Sikorski: Auch hier bieten wir Unterstützung an: bei den Reisekosten, den Visagebühren usw. Das gilt nicht nur für die Musikerinnen und Musiker selbst, sondern auch für das Management, wenn zum Beispiel vorab Besprechungstermine im Ausland wahrgenommen werden müssen.

Beim nächsten SXSW ist die Initiative Musik wieder mit dabei?

Sikorski: Auf jeden Fall! Wir freuen uns, wenn wir wieder tolle Bands nach Austin schicken können. Auf der SXSW spielen sie oftmals nicht nur auf unserem eigenen Showcase, sondern werden auch vom Booking der SXSW für andere Festival-Auftritte gebucht. Sobald die nächste Ausschreibung läuft, werden wir diese über unseren Newsletter verkünden. Ein herzliches Dankeschön geht in diesem Zusammenhang auch an das Bundeswirtschaftsministerium und das Referat für Kultur- und Kreativwirtschaft, die uns hoffentlich auch im kommenden Jahr tatkräftig bei der Präsenz der deutschen Musikszene auf der SXSW unterstützen werden.

Stand: Mai 2023

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