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13.10.2023 -

„Es ist schon so, dass das Thema Inklusion im Film seit etwa drei Jahren mehr Aufmerksamkeit bekommt. Nichtsdestotrotz haben wir noch einen weiten Weg vor uns.“ Interview mit Wolfgang Janßen, Rollenfang

Einleitung

Wolfgang Janßen

Wolfgang Janßen

© Gianni Plescia

People of Color oder queere Menschen im Film mit weißen bzw. heterosexuellen Schauspielerinnen oder Schauspielern zu besetzen, gilt heutzutage als absolutes No go. Anders ist es bei Menschen mit einer körperlichen oder kognitiven Behinderung. Deren Rollen werden nach wie vor meist von Schauspielerinnen und Schauspielern ohne Beeinträchtigung gespielt. Die Plattform Rollenfang möchte das ändern. Sie setzt sich dafür ein, dass Schauspielerinnen und Schauspieler mit Beeinträchtigung in Film und Fernsehen präsenter sind. Keine leichte Aufgabe, so Wolfgang Janßen, Initiator von Rollenfang.

Herr Janßen, die Gründung von Rollenfang geht auf Ihre Initiative zurück. Wie kam es dazu?

Janßen: Die Idee dazu entstand vor etwa zehn Jahren. Ich wollte damals meinen Patensohn Max dabei unterstützen, Schauspieler zu werden. Das war sein Traumberuf. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, wie groß der Widerstand in der Filmbranche sein würde, einen jungen Menschen mit Down-Syndrom auf dem Weg zu einer professionellem Schauspielausbildung zu unterstützen. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe dann kurzerhand selbst die Zügel selbst in die Hand genommen und eine Plattform aufgebaut, die Menschen mit Einschränkungen dabei hilft, beruflich in der Filmbranche Fuß zu fassen.

Als ehemaliger Verwaltungschef bei der Berlinale sind Sie mit der Filmbranche bestens vertraut.

Janßen: Richtig, wobei ich nach meiner langjährigen Tätigkeit bei der Berlinale auch einfach offen für Neues war. Ich habe also ein Konzept geschrieben und auf der Suche nach einem geeigneten Projektträger Kontakt zu VIA aufgenommen. Die gemeinnützige Gesellschaft ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband. Ihr Ziel ist es, Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Das Team von VIA war gleich offen für meine Idee. Wir haben dann im ersten Schritt zusammen mit meinem Patenkind Max und vier, fünf weiteren Kreativen mit Behinderung einen Workshop durchgeführt, um festzustellen, wie eine effektive Unterstützung aussehen könnte. Dabei ist dann übrigens auch der Name „Rollenfang“ entstanden: Er soll deutlich machen, dass Menschen mit Behinderungen durchaus in der Lage sind, ihre Filmrollen aktiv einzufangen, anstatt passiv auf eine günstige Gelegenheit warten zu müssen.

Der Start von Rollenfang lief also ziemlich glatt?

Janßen: Schön wär’s gewesen, aber nein: Es gab tatsächlich auch viele Bedenkenträger. Rollenfang arbeitet zum Beispiel mit bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern zusammen, die sich als Botschafter und Botschafterinnen für unsere Ziele einsetzen. Unsere erste Botschafterin in spe, Corinna Harfouch, war allerdings von der Idee erstmal überhaupt nicht begeistert und fragte mich, warum ich denn Max und andere Menschen mit Behinderung in dieses Haifischbecken werfen möchte. Nach zwei, drei Gesprächen war sie aber dann doch überzeugt, weil sie einfach gemerkt hat, dass Max das wirklich wollte. Da standen weder ehrgeizige Eltern oder andere Leute dahinter, die sich davon irgendetwas versprachen. Max hatte klar zu verstehen gegeben, dass er beim Film und auf der Bühne arbeiten möchte. Und die Chance sollte er bekommen.

Rollenfang vertritt nicht nur Menschen mit Down-Syndrom, sondern auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen. Wer gehört dazu?

Janßen: Da gibt es aus unserer Sicht keine feststehende Definition. Wir vertreten sowohl Schauspielinteressierte mit körperlichen Beeinträchtigungen - Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, seh- und hörgeschädigte Menschen - als auch Menschen, die eine kognitive Behinderung oder Beeinträchtigung haben.

Und die haben alle eine Schauspielausbildung absolviert?

Janßen: Nein, und damit sprechen Sie bereits die erste Hürde an. Staatliche Schauspielschulen und Kunsthochschulen stehen Schauspielinteressierten mit Behinderung in der Regel nicht offen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die wir vertreten, haben in der Regel eine Ausbildung an einer privaten Schauspielschule absolviert oder ihr Handwerk „on the Job“ gelernt. Es gibt zum Beispiel deutschlandweit viele und wirklich tolle professionelle inklusive Theaterensembles. Viele unserer Klientinnen und Klienten arbeiten in diesen Ensembles, haben aber wenig Erfahrung mit Film und sind daher zu uns gekommen.

Ist die Theaterszene in Sachen Inklusion besser aufgestellt als die Filmbranche?

Janßen: Ja und nein. In der Theaterwelt gibt es sehr viele inklusive private Theatergruppen, deren Schauspielerinnen und Schauspieler größtenteils eine Behinderung haben. Die Staats- und Stadttheater sind davon noch weit entfernt.
Ausnahmen bilden das Theater Dortmund und seit neuestem auch die Münchner Kammerspiele. Und in Berlin bahnt sich gerade eine Partnerschaft zwischen dem Deutschen Theater und dem inklusiven RambaZamba Theater an.

Und wie sieht es beim Film aus?

Janßen: Es ist schon so, dass das Thema Inklusion im Film nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussion um mehr Diversität seit etwa drei Jahren deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommt. Im Berliner Tatort wurde jetzt zum Beispiel die Rolle des Kriminalassistenten mit Tan Caglar besetzt. Tan ist ein türkischstämmiger Comedian, der im Rollstuhl sitzt. Das sind erste Signale, die hoffentlich für ein Umdenken in der Branche stehen. Nichtsdestotrotz haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Nach wie vor ist es so, dass bis zu 80 Prozent der Produktionsunternehmen oder Castingagenturen, die sich für unsere Schauspielerinnen und Schauspieler interessieren, nicht nach deren Qualifikation, sondern nach deren Behinderung fragen.

Positiv ist allerdings, dass wir inzwischen deutlich häufiger von Filmproduktionsunternehmen angefragt werden, die mit dem Thema Behinderung sensibler umgehen möchten, die uns ihre Drehbücher zum Gegenlesen geben und tatsächlich auch an der kreativen Leistung unserer Schauspielerinnen und Schauspieler interessiert sind.

Gibt es aus diesem Grund bei Rollenfang auch ein Labor?

Janßen: Ja, unser „Rollenfang Labor“ bietet allen Akteurinnen und Akteuren, die vor oder hinter der Kamera arbeiten - ob Schauspielerinnen und Schauspieler, Drehbuchautorinnen und -autoren, Regisseurinnen und Regisseure usw. mit und ohne Behinderung – die Möglichkeit, sich darüber auszutauschen, in welche Richtung sich die Filmbranche in puncto Inklusion entwickeln sollte. Für uns ist dabei natürlich immer auch die Frage wichtig, was Rollenfang konkret tun kann. 

Was genau bietet Rollenfang denn bisher an?

Janßen: Wir bieten zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern, darunter ein Fotograf und eine Filmproduktion, eine ganze Reihe von Leistungen an. Wir erstellen von unseren Schauspielerinnen und Schauspielern zum Beispiel Fotos und Showreels, also Videoclips, die wir in Casting-Datenbanken einstellen. Für unsere Klientinnen und Klienten ist dabei ganz entscheidend, dass alle Leistungen von Rollenfang kostenfrei sind.

Das gilt auch für unsere Coaching- und Weiterbildungsangebote. Die Coachings bereiten unsere Schauspielerinnen und Schauspieler auf konkrete Rollen vor. Auf Wunsch begleiten wir sie mit ans Set, nicht zuletzt, um auch den Kolleginnen und Kollegen vor Ort damit die Befangenheit zu nehmen, mit einem Menschen mit Behinderung zu arbeiten.

Rollenfang bietet außerdem einwöchige Kamera-Acting-Kurse für sechs bis acht Schauspielende an. Etwa die Hälfte davon hat keine Behinderung. Da gibt es jeden Tag eine Dispo, da wird geschminkt, da werden Kostümproben gemacht, da wird ganz nah mit der Kamera rangegangen, um die Kolleginnen und Kollegen darauf vorzubereiten, was sie am Set erwartet. Im Ergebnis kommt ein Kurzfilm dabei heraus.

Als Plattform oder Initiative, die sich für Schauspielerinnen und Schauspieler mit Beeinträchtigung einsetzt, betreibt Rollenfang außerdem natürlich sehr viel Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Sie sagten, die Leistungen sind kostenfrei. Wie finanziert sich Rollenfang?

Janßen: Wir erhalten vor allem Zuwendungen von der Aktion Mensch und von kleineren privaten Stiftungen. Außerdem werden wir vom Medienboard Berlin-Brandenburg gefördert. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg hat zudem einen Teil unserer Kurzfilme gekauft, die in unseren Workshops entstanden sind, so dass darüber auch etwas Geld in die Kasse geflossen ist. 

Wie viele Schauspielerinnen und Schauspieler werden aktuell von Rollenfang vertreten?

Janßen: Aktuell vertreten wir 35 Klientinnen und Klienten. Dazu gehört zum Beispiel Lucy Alena Wilke, die seit eineinhalb Jahren fest im Ensemble der Münchner Kammerspiele beschäftigt ist. Außerdem spielt sie mit ihrer Mutter in der Band blind & lame. Ihre Mutter ist blind und sitzt im Rollstuhl. Beide leben ausschließlich von der Kunst. Außerdem vertreten wir die Tänzerin und Schauspielerin Neele Buchholz, die ebenfalls ausschließlich von ihrer Kunst lebt und mit unserer Hilfe schon zwei, drei größere und kleinere Filmrollen bekommen hat.

Und wie sieht es mit den Honoraren aus?

Janßen: Das hat sich erfreulicherweise in den letzten zehn Jahren geändert. Vor zehn Jahren, als es mit Rollenfang losging, hieß es noch „Die können doch froh sein, dass sie mitspielen dürfen. Die kriegen hundert Euro und gut ist.“ Die Zeiten sind zum Glück vorbei. Um Gagen wird zwar immer noch hart verhandelt, aber mittlerweile wirklich in der Profiliga.

Welche Voraussetzungen müssen Interessierte mitbringen, um von Rollenfang vertreten zu werden?

Janßen: Man sollte auf jeden Fall den Wunsch haben, professionell beim Film zu arbeiten. Gut ist auch, wenn man schon Schauspielerfahrung mitbringt. Da wir aktuell pro Woche etwa zwei bis drei Anfragen erhalten, sind wir an den Grenzen unserer Kapazitäten. Ich rate daher erst einmal, sich bei unseren Kooperationspartnern, den Casting Plattformen Film Makers und Cast Upload, anzumelden und sich dort zu präsentieren. Im Anschluss vereinbaren wir dann einen Termin.

Wenn Sie über den deutschen Tellerrand blicken: Gibt es Beispiele im Ausland, die Sie gerne auf die hiesigen Verhältnisse übertragen würden?

Janßen: Als Positivbeispiele würde ich Großbritannien und die USA nennen. Dort gibt es starke Schauspielgewerkschaften. Die haben erreicht, dass sich die Frage nach einer Beteiligung von Filmschaffenden mit einer Behinderung gar nicht mehr stellt. In Großbritannien gibt es zum Beispiel für jeden öffentlich finanzierten Film eine Quote. Danach muss der Anteil der Mitwirkenden mit einer Behinderung, die vor oder hinter der Kamera beschäftigt sind, mindestens acht Prozent betragen. Außerdem hat ein Film, der nicht divers und damit auch inklusiv produziert wurde, heutzutage keine Chance mehr, mit einem der begehrten British Academy Film Awards ausgezeichnet zu werden.

Das sind alles Maßnahmen, die ich mir auch für die deutsche Filmbranche wünschen würde. Zumal die Zuschauerinnen und Zuschauer den Themen Diversität bzw. Inklusion meiner Ansicht nach durchaus offen gegenüberstehen. Das beste Beispiel dafür ist für mich Peter Dinklage. Jeder, der „Games of Throne“ oder den letzten Berlinale-Film „She came to me“ gesehen hat, kennt den US-amerikanischen Schauspieler. Er ist ein internationaler Star. Dass er kleinwüchsig ist, ist dabei vollkommen unerheblich. Diese veränderte Wahrnehmung ist doch ein toller Erfolg.

Stand: September 2023

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